Katzen Kurzgeschichte für den September 2007
Eddie
Teil 1
„Ich glaube, unser Eddie hält sich für einen Hund!", sagte Rodney zu seiner Frau und blickte mit sorgenvoller Miene auf das Katerchen, dass sich gemütlich auf seiner Decke zusammengerollt hatte. „Na, ich weiß nicht. So wie er dort liegt, macht er doch einen ganz normalen Katzeneindruck", antwortete Christiane skeptisch.
Rodney verdrehte die Augen. „Im Schlaf kann er sich wohl auch kaum verrückt verhalten! Aber heute Morgen hatte ich den Eindruck, er wolle zu einem Spaziergang ausgeführt werden, immerhin hat er sich dann doch noch auf das Katzenklo besonnen, als ich es ihm gezeigt habe. Und gestern war er drauf und dran mit einem Kotelettknochen zu fliehen. Und wenn der Knochen nicht zu groß für sein Mäulchen gewesen wäre, hätte er das Manöver auch in die Tat umgesetzt!" „Hhmm," machte Christiane, „ungewöhnlich ist das schon, aber vielleicht mag er einfach gerne Koteletts. So lange kennen wir ihn ja noch nicht!" „Da hast Du Recht und solange er zufrieden ist!" Christiane lächelte ihn an und Rodney verließ mit einem argwöhnischen Blick auf Eddie das Wohnzimmer.
*
Zwei Tage vorher
Eddie – ehemals bekannt als Candor II – genoss die wärmenden Strahlen der Spätnachmittagssonne, blinzelte einmal träge im Garten umher, um sich dann wieder ausgiebig der Fellpflege zu widmen. Auf einmal raschelte es neben ihm im Gebüsch und Aurelius quetschte sich durch die Hecke, die den Garten vom Nachbargrundstück abgrenzte. „Hallo Candor, wie geht’s, wie steht’s", begrüßte er seinen alten Bekannten. „Sehr gut", schnurrte Candor II. „Das glaube ich gern", antwortete Aurelius und betrachtete mit leicht spöttischem Grinsen Candors Figur. „Wie lange lebst Du nun bei Deinen Menschen? Das müssen doch gerade mal sechs Wochen sein! Dafür hast Du schon erstaunlich nachgelassen. Eine sportliche Figur ist etwas anderes!" Candor richtete sich zu voller Größe auf. „Das kannst Du doch nicht ernst meinen!", empörte er sich, warf aber vorsichtshalber einen schnellen Blick auf seinen Bauch.
Zu seinem Schrecken musste er feststellen, dass Aurelius nicht ganz unrecht hatte. Sicherlich hatte er ein wenig übertrieben, aber das ein oder andere Fettpölsterchen war vor sechs Wochen noch nicht da gewesen. Aurelius hatte den prüfenden Blick durchaus bemerkt und ersparte sich einen weiteren Spruch. „Mir geht es ja nicht besser", gab er versöhnlich zu, „vielleicht sollten wir mal wieder einen Ausflug unternehmen?" Candor brauchte nicht lange über den Vorschlag nachzudenken. „Na, klar, prima Idee! Gleich jetzt?" „Nein, heute ist es schon zu spät. Meine Menschen haben keine Katzenklappe und da muss ich zusehen, dass ich rechtzeitig zu Hause bin. Aber wie wär’s mit morgen?" „Okay, dann machen wir morgen den Park unsicher, wie in alte Zeiten. Das wird bestimmt lustig!", freute sich Candor und verabschiedete sich von Aurelius, der sich zurück auf sein Grundstück schlich.
Am nächsten Mittag schoben sich die beiden Kater unter der Gartenpforte, die den Garten von Candors Menschen von der Straße abgrenzte, hindurch und erreichten wenig später den nahe gelegenen Park. „Ich brauch eine Pause", schnaufte Aurelius und hievte sich mit letzter Kraft auf die den Park umgebende Mauer. Candor landete mit einem eleganten Sprung neben ihm und beäugte ihn kritisch. „Du hast doch schließlich mit dem Fitness-Thema angefangen und nun machst Du schon nach den ersten paar Metern schlapp!" Candor II war empört. „Ich lebe schließlich auch schon viel länger bei meinen Menschen als Du bei Deinen", versuchte Aurelius sich zu rechtfertigen. Offensichtlich hatte der eine Satz Aurelius’ letzten Kräfte verbraucht, denn kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, streckte er sich auf der schattigen Mauer aus. „Nur ein wenig schlafen", murmelte er noch und schon drangen an Candors Ohr nur noch leise Schnarchgeräusche. „Das kann ja wohl nicht wahr sein!", schimpfte dieser leise vor sich hin, „wenn ich schlafen will, brauch ich mich wohl kaum aus meinem Garten davonzuschleichen. Außerdem hätte ich dort sogar Sonne!" Mit einem wütenden Satz segelte Candor II in den Park hinein. „Dann mache ich meinen Ausflug eben allein!", beschloss er und machte sich ohne noch einen Blick auf den selig vor sich hin schnorchelnden Aurelius zu werfen auf zu einer ausgedehnten Parkrunde.
Er kam am Spielplatz vorbei, wo er ein kurzes Päuschen einlegte, um die Kinder bei Spielen zu beobachten, jagte zum Spaß hinter ein paar Vögeln her und ließ sich schließlich am Ufer eines kleinen Teiches nieder, um ein wenig die Fische, die dicht unter der Oberfläche umherschwammen, zu beobachten.
Plötzlich sprang ihn etwas von der Seite an. Er bekam gerade noch mit, dass ihn etwas Hartes an der Schläfe traf, dann umfing ihn absolute Dunkelheit. Pochender Kopfschmerz, der jedoch immer schwächer wurde, war das Erste, was Candor wieder wahrnahm. Langsam versuchte er ein Auge zu öffnen. Es schien gut zu gehen und er versuchte auch das zweite. Geblendet schloss er sie wieder, unternahm jedoch gleich einen zweiten Anlauf. Und siehe da, die Schemen verdichteten sich langsam zu Bildern und sichtbar wurde ein besorgtes Dackelgesicht, aus dem eine große rosa Zunge heraushing. Erschreckt zuckte Candor zurück, als diese Zunge seinem gerade wieder gewonnenen Augenlicht immer näher kam und schließlich beherzt sein gesamtes Gesicht abschleckte. Er musste jedoch zugeben, dass die kalte Erfrischung ihn wieder munter werden ließ. Er setze sich noch etwas benommen auf.
„Wo bin ich?", murmelte er. „Am Entenweiher", antwortete die unbekannte weibliche Stimme, die offenbar zu dem freundlichen Dackelgesicht gehörte. „Es tut mir so leid! Wenn meine Menschen Frisbee spielen, vergesse ich regelmäßig meine ganze Umwelt, da ich so gerne mitspielen möchte. Dann laufe ich blind umher, das einzige, was ich noch sehe, ist der Frisbee – na, ja, und dann warst leider Du mitten in meinem Weg und ich bin mit voller Wucht in Dich hineingelaufen. Es tut mir wirklich sehr leid, tut Dir noch etwas weh?" „Nein, ich glaube, es ist schon wieder in Ordnung", schwindelte Candor, denn in Wahrheit war überhaupt nichts in Ordnung. Zwar legte sich der Kopfschmerz langsam und auch sein Körper würde bis auf ein paar leichte Prellungen nichts zurückbehalten, aber wo zum Teufel war der Entenweiher? Und was noch viel wichtiger war, wer war er selbst?
„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Klara und das dort hinten sind meine Menschen!", plapperte die Dackeldame munter weiter. „Oh, äh, ja, schön, Dich kennengelernt zu haben. Mein Name ist .…", er zögerte kurz. Dann kam ihm ein Name ins Gedächtnis, der ihm wage vertraut erschien. „Eddie, mein Name ist Eddie." „Hast Du Lust mit zu meinen Menschen zu kommen, Eddie? Vielleicht geben sie Dir auch einen von diesen wunderbaren, kleinen Ringen, die so toll in der Packung rascheln? Ich meine, wenn Du so was isst, natürlich." Candor hatte keine Ahnung, wovon Klara sprach und nickte daher nur, weil ihm keine bessere Reaktion einfiel. Diese sprang daraufhin auf ein jüngeres Menschenpaar zu, das es sich unter einem Baum bequem gemacht hatte.
„Na, Klara, Du suchst Dir aber auch immer wunderlichere Freunde aus!", begrüßte sie die Menschenfrau, „das ist doch eine Katze!" Candor hielt sich wohlweislich im Hintergrund, da er keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Er beobachtete, wie Klara die Tasche, die neben dem weiblichen Menschen lehnte, anstupste und die Frau daraufhin eine Packung zu Tage förderte, aus der sie zwei Kringel nahm, mit denen Klara strahlend hinter einem etwas entfernten Gebüsch verschwand. Ob das wohl die erwähnten Leckerlis waren? Candor nahm allen Mut zusammen und versuchte den gleichen Trick. Vorsichtig ging er auf die Frau zu, stieß leicht mit der Nase die Tasche an und blickte dann erwartungsvoll hoch. „Na, Du bist ja einer!", lachte die Frau. „Möchtest Du etwa ein Hundekringelchen haben? Na, ob Dir das denn schmeckt? Aber wenn Du unbedingt magst, hier, bitteschön!" Sie bot Candor auf der flachen Hand das Leckerchen an. Dieser schnupperte daran. Etwas ungewohnt roch es schon, aber nicht schlecht. Vorsichtig nahm er den Kringel in den Mund. Er war etwas zu groß für ihn, doch es würde schon gehen. Mit der Beute im Maul schoss er hinter Klara her.
Diese hatte ihre zwei Kringel längst aufgefressen, wartete jedoch geduldig, bis auch Candor den Kringel in zwei mundgerechte Stücken zerlegt und schließlich verschlungen hatte. „Ich hab noch nie einen Kater gesehen, der Hunde-Leckerlis frisst", sprach sie ihn dann an. „Hhmm, also ehrlich gesagt, verstehe ich nicht so ganz, was Du meinst?", antwortete Candor etwas zögerlich. Klara sah ihn erstaunt an. „Was verstehst Du nicht?" „Sind wir denn so verschieden?" „Natürlich! Ich bin ein Dackel und Du ein Kater!" „Und wo ist da der Unterschied!" „Also, ich mag gerne Frisbee spielen, liebe Kotelettknochen, warte brav an der Tür, wenn meine Menschen nach Hause kommen und werde mehrmals am Tag von Herrchen oder Frauchen spazieren geführt. Ich weiß ja nicht, was Du so machst, aber ich denk…" In dem Moment hörten die beiden einen lauten Pfiff gefolgt von einem „Klara, Klara wo bist Du denn, wir wollen nach Hause!" „Das ist mein Herrchen, der mich da ruft, also ich muss dann mal los, mach’s gut!" Und schon verschwand Klara hinter den nächsten Bäumen und war froh, diese günstige Gelegenheit zur Flucht angeboten bekommen zu haben. Sie schwor sich, in Zukunft besser aufzupassen, wo sie hinlief, und wenn das doch einmal nicht gelang, zumindest nicht mehr so leichtgläubig Freundschaft zu schließen. Ein Kater, der den Unterschied zwischen ihm und einem Dackel nicht kannte, wo gab es denn so was?
Teil 2
Candor fühlte sich nach Klaras schnellem Abgang sehr verloren. Er hatte noch immer keine Ahnung, wer er war und wohin er gehörte. Traurig schlich er durch den Park. Auf einmal schien ihm eine Stelle bekannt vorzukommen. Ohne groß darüber nachzudenken, sprang er auf die Parkmauer und schaute sich um. Nein, so wirklich bekannt war ihm die Gegend nicht, aber irgendein Gefühl tief in ihm drin sagte ihm, dass er sich eigentlich an die Straße, die vor ihm lag, erinnern müsste. Da er nicht wusste, was er sonst hätte machen sollen, sprang er kurz entschlossen von der Mauer und folgte dem Straßenverlauf.
Genau wie vorhin, als er die Mauer entdeckt hatte, verspürte er bei einer bestimmten Gartenpforte ein Gefühl von Vertrautheit. Er zögerte auch diesmal nicht lange, sondern quetschte sich unter den Latten hindurch und gelangte in einen gemütlichen kleinen Garten. Er sah ein Paar Menschen auf der Terrasse sitzen, ein weiterer stand an einem dampfenden Grill. Der Mann drehte sich plötzlich um. „Eddie!", rief er erfreut, „wo bist Du denn gewesen? Wir haben schon angefangen, uns Sorgen zu machen!" Eddie? War das nicht der Name, der ihm vorhin in den Sinn gekommen war, als Klara ihn nach seinem Namen gefragt hatte? War er tatsächlich Eddie?
Vorsichtig lief er auf den Mann zu, schnupperte an der Hand, die ihm hingehalten wurde und rieb zufrieden seinen Kopf daran, als er feststellte, dass der Geruch ihm tatsächlich vertraut war. Er beschloss erst einmal ein Nickerchen zu machen. Vielleicht würde dann ja auch sein Gedächtnis zurückkehren.
Als er aufwachte, fragte er sich zunächst, was ihn wohl geweckt habe und stellte dann fest, dass es der Mensch, der wohl sein Herrchen war, gewesen sein musste. Er räumte offenbar die Reste des Grill-Abends zusammen. Dabei rutschte ein Kotelettknochen von einem der Teller zu Boden. Kotelettknochen – davon hatte Klara gesprochen! Eddie witterte seine Chance, sprintete zur Terrasse, setzte zum Sprung auf den Knochen an – und musste feststellen, dass die Größe seines Mauls in keiner Weise zu dem Knochen passte. Der Mensch kam zurück. „Aber Eddie, was machst Du denn da? Das ist doch nichts für Dich? Hast Du Hunger? Na, dann komm mal her." Eddie fühlte sich gepackt und hochgehoben, unterließ es jedoch, sich seinen Schrecken anmerken zu lassen. Vielleicht war das ja ganz normal? Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stieß seine Nase fast gegen einen gut gefüllten Futternapf. Vorsichtig probierte er. Ja, das war auf jeden Fall etwas Vertrautes. Er setzte sich zurecht und begann genüsslich zu fressen. Fisch schmeckte tatsächlich viel besser als der Kotelettknochen. Was Klara nur damit hatte?
Als Eddie am nächsten Morgen aufstand, verspürte er ein kätzisches Bedürfnis. Wenn er sich doch nur erinnern würde, wo er da hinmusste! Er war froh, dass er sein Herrchen in der Küche rumoren hörte und folgte den Geräuschen. Klara hatte doch etwas von mehrfachen Spaziergängen gesagt! Ja, das musste es sein, er musste nur sein Herrchen darauf aufmerksam machen, dass er hinauswolle, dann würde er zu einem Spaziergang geführt werden, währenddessen er sich einmal kurz in die Büsche absetzen konnte. Er maunzte laut. „Na, Eddie, was ist los?", begrüßte ihn Rodney. Eddie lief zur Haustür und zurück in die Küche. Das schien ihm ein adäquater Weg zu sein, um sein Bedürfnis zu vermitteln. Als sein Herrchen jedoch nur verstört guckte, wiederholte er den Vorgang einfach: Maunzen, zu Herrchen hochblicken und dann zur Haustür rennen. „Also wenn Du ein Hund wärst, würde ich vermuten, Du müsstest mal dringend raus, aber Du hast doch ein Katzenklo! Weißt Du nicht mehr, wo das ist? Es war auch gemein von uns, einfach den Standort zu verändern!" Rodney und Christiane hatten kurz vorher den Standort des Katzenklos vom Flur ins Gästebad verlegt. Sie fanden, auch Eddie habe ein Recht darauf, ein Badezimmer zu benutzen.
Eddie wurde also erneut gepackt und als seine Pfoten diesmal den Boden berührten, fühlte er vertrautes Streu unter sich. Der Sinn der geräumigen Plastikschale war Eddie sofort klar und er war froh, dass sein Herrchen taktvoll den Raum verließ.
Später am Tag hörte er seine Menschen mit dem Haustürschlüssel klimpern und schoss in den Flur. Vielleicht würde er ja doch noch zu seinem Spaziergang kommen? Rodney blickte Christiane viel sagend an. ‚Siehst Du, der ist nicht mehr normal!’, schien sein Blick zu sagen. Laut sprach er jedoch: „Nein Eddie, Du kannst nicht mit. Einkaufen ist nichts für Dich. Du kannst doch in den Garten, das magst Du doch." Und schon waren die beiden Menschen verschwunden.
Missmutig tappste Eddie durch den Garten, als neben ihm ein unbekannter Kater auftauchte. „Hallo Candor", sagte er. Eddie drehte sich suchend um. Er sah niemanden, der Candor heißen könnte. „Bist Du noch sauer wegen gestern? Tut mir leid, ich bin nun mal nicht mehr so sportlich!" Gestern? Was sollte das Ganze? „Entschuldigung, aber ich habe keine Ahnung, wer Sie sind und einen Candor gibt es hier auch nicht. Mein Name ist Eddie und ich wohne hier!" „Aber das gibt’s doch nicht! Eddie ist doch nur der Name, den Deine Menschen Dir gegeben haben. Natürlich bist Du Candor. Candor II! Und ich bin Dein alter Kumpel Aurelius!" „Ich kenne keinen mit dem Namen Aurelius und ich bin bestimmt nicht Ihr Candor II oder III oder wer auch immer! Und nun entschuldigen Sie mich. Meine Menschen werden bald zurück sein und als guter Dackel, ich meine Kater, werde ich sie an der Tür erwarten, wie sie es verdient haben!"
Mit diesen Worten schritt Eddie hoch erhobenen Hauptes auf das Haus zu und ließ einen völlig fassungslosen Aurelius zurück. Er blickte Eddie noch eine Zeit hinterher und verzog sich schließlich wieder in sein eigenes Revier, das er beschloss nie wieder zu verlassen. Wenn draußen Dinge lauerten, die das mit einem Kater anstellen konnten, blieb er lieber etwas dicklich aber dafür bei geistiger Gesundheit.
In Hamburg hat nie wieder ein Kater oder eine Katze etwas von Aurelius gehört. – Von Eddie allerdings auch nicht, denn der war von diesem Tag an zu sehr damit beschäftigt, auf seine Menschen zu warten, immer in der Hoffnung, dass sie ein wenig Zeit für ‚wirf das Spielzeug’ erübrigen konnten. Und zu einem Spaziergang würde er Herrchen irgendwann auch noch überreden können, er musste nur beharrlich bleiben!
Ende
© Britta Martens 2007